Peter Turrini: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Kurt Welther-Festspiele“, BAWAG-Foundation, 1989

Was ist das für ein Maler, der seine Bilder „Sepp Wildschwendter ist 80“ oder „Zweiter Preis im Clematis-Züchter-Wettbewerb“ nennt?

Kurt Welther ist ein Maler der Provinz und man muss über die Provinz reden, wenn man über ihn etwas sagen will.

Die Selbstdarstellung der Provinz ist der Verein. Die Nöte des Daseins, die Familientragödien und die Kreditschulden, die Abhängigkeiten und Ängste, sind öffentlich nicht herzeigbar, herzeigbar ist die Fassade, die geglättete Oberfläche, der funktionierende Verein, nicht das eigene Leben, sondern das Vereinsleben.

Diese Vereine dienen einem einzigen Zweck:

Sie zeigen her, was man nicht ist, was man aber sein möchte, ein von Widersprüchen gereinigter Mensch. Wenn sich diese Vereine dennoch einen Zweck geben, so ist das nur eine Täuschung. Dem Bildungsverein geht es nicht um Bildung, dem Verschönerungsverein nicht um Schönheit und selbst für die Freiwillige Feuerwehr ist das Löschen von Bränden das Nebensächlichste. Es geht um das öffentliche Herzeigen: um das Ausrücken, um das Aufmarschieren, um das defilieren und das Gratulieren.

Es gibt kein Leben außerhalb der Vereine und wenn es sich dennoch regt, als Kritik, als Alternative, als Auffälligkeit, fällt es im besten Falle der üblen Nachrede und im schlimmsten Falle der sozialen Vernichtung anheim.

Die Vereinsmitglieder zerstören das Andersartige um sich, aber sie zerstören es auch in sich. Ihr angestrengtes Bemühen, nichts von dem aufkommen zu lassen, was nicht herzeigbar ist, strapaziert ihre Gesichtsmienen bis zur Entstellung, bis zur Gesichtslosigkeit. Ein Maler wie Kurt Welther, der solches Provinzleben und Nichtleben sieht und malt, erzählt uns mehr über die Menschen, als einer, der die ganze Menschheit zum Thema hat.

Aus der Sicht der Metropole sind diese Vereinsmitglieder und Vereinsleiter, die Kassenwarte und die Kassendirektoren gleichermaßen Deklassierte. Ihre Wichtigkeit endet an der Dorf- oder Kleinstadtgrenze, also muss sie innerhalb der Grenzen umso nachhaltiger erkämpft und behauptet werden. Jede Veränderung, jeder Aufstieg, jede Auszeichnung, jeder Händedruck wird in Provinzzeitungen veröffentlicht, wenn möglich mit Bild und Bildunterschrift. Keine Geburt, keine Hochzeit, kein Tod hat stattgefunden, wenn er nicht als Vereinsnachricht bekanntgegeben werden kann.

Ich hoffe, sie blicken jetzt nicht in Hochmut auf die Provinz. Die Provinz gibt es im Dorf, in der Kleinstadt und es gibt sie in der Großstadt. In der Metropole hat sie nur eine größere Form: aus dem Verein wird der Kongress aus der Stammtischrunde die Stadtgesprächsrunde, aus dem Further Bläserquartett die niederösterreichische
Landesregierung. Provinz das ist ein Zustand, das ist die Auflösung des Menschen und seiner Widersprüche im Verein, in der Runde, in der Norm. Provinz, das ist der nachhaltige Wille zur Mitmacherei, der intensiven Drang zur Übereinstimmung, die Erlösung in der Auflösung. Wer zur Provinz gehört, lebt nicht gut, aber er lebt mit der dauerhaften Beruhigung, dass er normal ist und auch dafür gehalten wird. Provinz ereignet sich – und jetzt folge ich einigen Bildtiteln von Kurt Welther- wenn Hippach seine Veteranen ehrt, Michael Heltaueinen einen heiter besinnlichen Abend gibt und Kurt Waldheim die Kochnationalmannschaft verabschiedet.

Auf Grund solcher Bildtitel könnte man Kurt Welther für einen Zyniker halten. Ich tue das nicht. Der Zyniker schiebt zwischen sich und den Gegenstand seiner Betrachtung das Abwertende, das Verletzende. Kurt Welther wendet sich nicht von diesen Menschen ab, er blickt ihnen ins Gesicht. Er nimmt sie, mehr als sie selbst es tun, wahr. Er malt, mit Ironie und Trauer über das Wahrgenommene, den Verlust ihrer Antlitze.

Auf den Bildern Kurt Welther gratulieren immer wieder irgendwelche Vereinsvorsteher alten Menschen zum Geburtstag. Von jenen, die geehrt werden sollen, ist kaum etwas zu sehen. Aber seltsam: je mehr sich die Wichtigtuer ins Bild schieben, desto mehr fragt man sich, wer der Geehrte? eigentlich ist.

Wer ist dieser Sepp Wildschwendter, dem da zu achtzigsten Geburtstag gratuliert wird? Was ist das für ein Leben? Kurt Welther ehrt diese Menschen auf seine Weise.

Ich freue mich, dass die Entdeckungslust der Ursula Pasterk vom politischen Alltagsgeschäft noch nicht verschüttet wurde, und dass sie diesen Maler nach Wien geholt hat. Ich beglückwünsche die BAWAG-Fondation – wer immer hier der Verantwortliche ist – zu dieser Ausstellung und zur Bereitschaft, nicht auf einen Namen und auf eine Mode zu setzten. Warum ich hier stehe und zu Ihnen speche ist sehr einfach zu sagen: für mich ist Kurt Welther eine der wichtigsten Begegnungen in den letzten Jahren, als Mensch und als Künstler.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

Peter Turrini

Wien, 4. April 1989